Schon seit einiger Zeit werden uns Fälle gemeldet, in denen Geflüchteten aus der Ukraine der vorübergehende Schutz nach § 24 AufenthG verwehrt wird mit der Begründung, sie seien Staatsangehörige eines EU-Staates, meistens Ungarn. Hierzu gibt es in Baden-Württemberg sogar zwei Rundschreiben des Justizministeriums an die lokalen Behörden mit Bitte um genaue Prüfung entsprechender “Verdachtsfälle” und der Bitte “das Vorliegen der Voraussetzungen für die Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung aufgrund § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG besonders sorgfältig zu überprüfen”:
Rundschreiben 1
Rundschreiben 2
Rückmeldungen aus der Praxis deuten darauf hin, dass dieser Verdacht sich vor allem gegen Roma richtet. Die Folgen dieser Vorgehensweise sind, so wird uns berichtet, dass Betroffene teilweise wochenlang hingehalten werden und keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten, mit der Begründung, es müsse geprüft werden, welche Staatsangehörigkeit sie haben. Zunehmend werden sie auch aufgefordert – wie im Rundschreiben aus BW dargelegt – ungarische Auslandsvertretungen zu kontaktieren, um Negativbescheinigungen bzgl. des Vorliegens einer ungarischen Staatsangehörigkeit zu erhalten.
Wie ihr möglicherweise wisst, gibt es in der westukrainischen Region Transkarpatien eine signifikante ungarische Minderheit und außerdem auch viele ungarischsprachige Roma. 2011 hat Ungarn den Erwerb der ungarischen Staatsangehörigkeit für Personen in ehemals ungarischen Gebieten, die durch den Vertrag von Trianon verloren gegangen sind, deutlich erleichtert. Gerade in den betroffenen Ländern – hierzu gehört die Ukraine, aber auch Serbien – haben viele Leute von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht:
Die beschriebene Praxis einiger deutschen Behörden ist aus unserer Sicht aus verschiedenen Gründen kritikwürdig:
- Es geht um Menschen, die in der Ukraine gelebt haben und aufgrund des Krieges geflohen sind, weshalb sie – ebenso wie aus der Ukraine geflüchtete Drittstaatsangehörige – einen Anspruch auf Schutz haben sollten.
- Diese Personen können nicht vernünftigerweise darauf verwiesen werden, dass sie in Ungarn leben können, da es in Ungarn massive Diskriminierung, Ausgrenzung und staatliche tolerierte Gewalt gegen Roma gibt. Das betrifft ungarische Roma, und es betrifft auch aus der Ukraine geflüchtete Roma. Diese werden als “Wirtschaftsflüchtlinge” diffamiert und teilweise wird ihnen unterstellt, ihre ungarischen Pässe seien gefälscht.
- Diese Vorgehensweise richtet sich in der Praxis gezielt gegen Roma und bedient sich altbekannter Stereotype, um die Fluchtgründe geflüchteter Roma zu delegitimieren. Die Formulierung im Rundschreiben aus BW “Die betreffenden Personen werden oft im Familienverbund vorstellig” hat keine erkennbare Funktion – nach Auskunft des BMI sind 83% aller ukrainischer Geflüchtete zusammen mit Angehörigen nach Deutschland gekommen, so dass das Merkmal “im Familienverbund” kaum als besonderes Unterscheidungsmerkmal herhalten kann. Möglicherweise geht es um eine subtile Andeutung, dass hiermit Roma gemeint sind. Das Bild der (Groß-)Familie aus Osteuropa, die aus “wirtschaftlichen Motiven” nach Westeuropa kommt, ist ein bekanntes Stereotyp, das auch ohne explizite Nennung des Wortes “Roma” entsprechende Assoziationen weckt.
- Der Hinweis im Rundschreiben aus BW, es sei ein Hinweis auf anderweitige Staatsangehörigkeit, wenn eine Verständigung weder auf Russisch noch auf Ukrainisch möglich sei, geht an der Realität vorbei. Die Ukraine ist ein multiethnischer und multilingualer Staat, und es gibt ukrainische Staatsangehörige, die Ungarisch, Romanes, Rumänisch, Slowakisch oder andere Sprachen sprechen. Diese Personen werden durch solche Maßnahmen unter Verdacht gestellt und konkret benachteiligt, auch wenn sie tatsächlich keine andere Staatsangehörigkeit als die ukrainische haben.
- In einem Beitrag auf der Website des Informationsverbundes Asyl und Migration erklärt Claudius Voigt von der GGUA Flüchtlingshilfe Münster, warum der vom BMI vertretene Ausschluss von Unionsbürger*’innen aus seiner Sicht nicht haltbar ist. Das Besserstellungsgebot des § 11 Abs. 14 FreizügG soll eine aufenthaltsrechtliche Schlechterstellung von Unionsbürger*innen gegenüber Drittstaatsangehörige verhindern. Deshalb müssten Unionsbürger*innen, die keinen “guten” Freizügigkeitsgrund ausüben (z. B. weil sie noch keine Arbeit gefunden haben oder gar erwerbsunfähig sind), ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG erhalten können. Dies müssten Ausländerbehörden und Sozialbehörden berücksichtigen.
- Der komplette Ausschluss von jeglichen Sozialleistungen dient dazu, Menschen zu zermürben und hat teilweise die Folge, dass die Betroffenen sich zur Rückkehr in die Ukraine gezwungen sehen. Es dürfte auch selbst bei Vorliegen einer Unionsbürgerschaft rechtlich fragwürdig sein.
- Das Vorgehen erinnert stark an die hochgradig kritikwürdige Praxis in Tschechien, ukrainische Roma einer Sonderprüfung zu unterziehen. Dort wurden faktisch alle Roma einer kafkaesken Überprüfung unterzogen, um zu prüfen, ob sie neben der ukrainischen auch eine ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Während dieser Zeit haben sie keine Unterstützung erhalten. Das hat zu dramatischen Szenen geführt: Am Prager Bahnhof sind Hunderte Roma gestrandet, die obdachlos waren, und in Brno wurden sie in Zelten an einem Ort ohne fließend Wasser untergebracht.
Es hat sich schließlich herausgestellt, dass nicht einmal drei Prozent der ukrainischen Roma, die in Tschechien Schutz gesucht haben, eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen (auf wieviele Ukrainer:innen der Mehrheitsbevölkerung dies zutrifft, ist nicht bekannt, da diese nicht überprüft wurden). Im Endeffekt hat das dazu geführt, dass die geflüchteten Roma in anderen Ländern Schutz gesucht haben oder in die Ukraine zurückgekehrt sind. Der mutmaßliche Zweck hinter der Sonderprüfung ist also voll aufgegangen.
Wir möchten euch auf dieses Problem in Deutschland aufmerksam machen und fragen, ob es Probleme dieser Art auch in anderen Teilen Deutschlands gibt. Gibt es außer in BW irgendwelche Erlasse oder Rundschreiben zum Thema? Sind euch Einzelfälle bekannt? Gab es Klagen gegen die Verweigerung von Fiktionsbescheinigung und / oder Sozialleistungen? Gibt es Erfahrungen von Vorsprachen bei ungarischen (oder anderen) Auslandsvertretungen?